BEHINDERUNGEN
Wenige Wochen nach meiner am 2. Dezember 1958 erfolgten Promotion an der Universität Basel wurde mein Doktorvater Joseph Gantner (1896–1988) von seinem Kollegen in Bonn, Herbert von Einem (1905–1983), dem Papst der deutschen Michelangelo-Forschung, angefragt, ob er zufällig einen frisch promovierten und als Assistent geeigneten Schüler habe. Gantner fragte mich: „Haben Sie Lust?“, Ich sagte „Ja“ und er fädelte sogleich ein Vorstellungsgespräch vor Ort ein. Das Gespräch fand statt in einem kleinen Raum an einem langen Tisch. Von Einem hatte einen zwergwüchsigen Sekundanten namens Heinrich Lützeler (1902–1988) mitgebracht, der mich irritierte, weil er die ganze Zeit schweigend dasaß, während Von Einem nichts Gescheiteres einfiel, als mich einer zweiten mündlichen Prüfung zu unterziehen. Nach einer geschätzten Dreiviertelstunde hatte ich die Fragerei satt und antwortete, um sie so schnell wie möglich zu beenden, nur noch mit „das weiß ich nicht“. Ein paar Stunden später saß ich wieder im Zug nach Basel mit dem angenehmen Gefühl, einem päpstlichen Inquisitor entronnen zu sein. Dass Lützeler der Philosoph, Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler, Theaterkritiker und Humorist war, den die Nazis mit Schreib- und Sprechverbot belegt hatten, und dass er ab 1946 Leiter des Kunsthistorischen Instituts war, wurde mir erst nach seinem Tod bekannt. Hätte ich es anno 1959 gewusst, wäre Bonn womöglich zur längsten und schönsten Station in meinem Curriculum geworden – mit dem Korinthenkacker Von Einem hätte ich mich eben irgendwie arrangiert.
Wieder im geliebten Basel, erfreute mich Gantner, verärgert über das Gebaren seines Bonner Kollegen, mit der Ankündigung, mir ein zweijähriges Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds zu verschaffen. Seine Großmut zahlte sich aus. Ich konnte mir dank dem Stipendium den durch meine Dissertation generierten Wunsch erfüllen, halb Europa zu bereisen, um den größten Teil aller Michelangelo zugeschriebenen und in England, Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland befindlichen Zeichnungen unter die Lupe zu nehmen.
Im Frühjahr 1961 wieder in Basel, sah ich zum letzten Mal den Hamburger Germanistikstudenten, der von Zeit zu Zeit seine bei Joseph Gantner studierende Hamburger Freundin besuchte. Da er im Nebenfach Kunstgeschichte bei Wolfgang Schöne (1910-1989) studierte, war ihm bekannt geworden, dass dieser einen Assistenten suchte. Er beschrieb mir Schöne als einen zwar gelegentlich aufbrausenden, aber sensiblen und leicht zugänglichen Waldschrat. Ob ich nicht Interesse hätte, Assistent dieses Unikums zu werden?
Ich war interessiert und so setzte der Student, nach Hamburg zurückgekehrt, Schöne davon in Kenntnis. Dieser lud mich schriftlich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Als ich am vereinbarten Tag in der Hamburger Universität eintraf, befand sich Schöne, damals Dekan der Philosophischen Fakultät, in einer Sitzung. Die Dekanatssekretärin meldete ihm meine Ankunft und eine Viertelstunde später stand er vor mir. Das Vorstellungsgespräch dauerte zwanzig Minuten und bestand fast nur aus dem Austausch von Freundlichkeiten und der Einladung zu einem Essen nach dem Ende der Sitzung. Beim Essen machte mich Schöne darauf aufmerksam, dass mir ein anstrengendes Sommersemester bevorstehe, weil er als Dekan kaum Zeit habe, sich außerhalb der Vorlesungen und Seminare mit den Angelegenheiten der Studierenden zu befassen. Für mich eine Frohbotschaft.1
Im Vorjahr dieses Frühlings waren meine Dissertation ( Michelangelo Buonarrotis letzte Pietà-Idee, Francke Verlag Bern ) und die beiden ersten Aufsätze – „Über eine verkannte Michelangelo-Zeichnung“ ( Zeitschrift für Kunstgeschichte , XXIII, 1960, S. 19-41) und „Bemerkungen zur Genesis von Sebastiano del Piombos Auferweckung Lazari in der National Gallery in London“ Wallraf-Richartz-Jahrbuch , XXII, 1960, S.173-194) – erschienen.
Als zwei Jahre später der dritte Aufsatz – „Michelangelo und Marcello Venusti: Das Problem der Verkündigungs- und Ölberg-Konzeptionen Michelangelos“ Wallraf-Richartz-Jahrbuch , XXIV, 1962, S. 261-294) – erschien, war der vierte druckfertig. Er behandelte zwei in der Royal Library von Windsor Castle verwahrte Blätter, deren Rückseiten mit Feder und Tinte in ein und derselben Cinquecento-Handschrift beschriftet sind mit „D. Giulio Clouio“ bzw. „D. Giulio Clouio copia di Michiel Angel“. Diesen Aufsatz schickte i ch der liebenswürdigen Redaktorin der Zeitschrift für Kunstgeschichte , die schon den ersten Aufsatz publiziert hatte. Diesmal aber kam das Manuskript postwendend zurück. In dem seltsamen Begleitschreiben war von ungenannten „Fehlern“ die Rede und in einer schwer verständlichen Zeile kam der Name Herbert von Einem vor. Ich konnte mir das verklausulierte Schreiben nur verständlich machen als den Versuch der vom Bonner Inquisitor drangsalierten Redaktorin, mir zu erklären, warum der neue Aufsatz nicht in der renommierten Zeitschrift für Kunstgeschichte erscheinen durfte.
Herbert von Einem muss damals in den Redaktionen aller deutschen Kunstgeschichts-Periodika interveniert haben. Das Manuskript meines vierten Aufsatzes wurde jedenfalls auch von der Redaktion des Wallraf-Richartz-Jahrbuchs an mich zurückgeschickt – dem Begleitschreiben zufolge wegen akutem Mangel an Platz im relevanten Jahrbuch. Die Redaktionen des Pantheon und des Münchner Jahrbuchs der bildenden Kunst machten sich gar nicht erst die Mühe einer Antwort. Nachdem ich ihr Schweigen lange genug als Zeichen gründlicher Lektüre missdeutet hatte, setzte ich das letzte Stück Hoffnung auf ein Placet seitens der Zwei-Mann-Redaktion des Jahrbuchs der Berliner Museen. Hans Möhle, der Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts, reagierte innerhalb weniger Tage mit einem anerkennenden Brief. Allerdings müsse – schrieb er – seinem Placet noch Prof. Hans Kaufmann zustimmen. Dieser legte nach Ablauf etlicher Wochen ein Veto gegen Möhles Placet ein. Aus den vielen Ausrufzeichen, mit denen das mir zurückgeschickte Manuskript bespickt war, konnte ich ersehen, dass meine unsakrale Sprache und die Unverfrorenheit, mit der da zwei zeichnerische „Michelangelo“-Heiligtümer zu Produkten Clovios degradiert wurden, Kaufmanns heiligen Zorn erregt hatten.
Mein vierter Aufsatz blieb also ungedruckt. Immerhin kam er zu vielen Ohren, weil ich einen Vortrag daraus machte und diesen zwischen 1967 und 2000 von Zeit zu Zeit an je verschiedenen Orten (u.a. im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich und in der Bibliotheca Hertziana in Rom) in jeweils etwas verbesserter Form zu Gehör brachte. Dabei geschah es, dass die anfänglich auf Studierende beschränkten Publikumssegmente, die weder zeterten noch Mordio schrieen, allmählich auch das professorale Establishment der Spezialisten zu einer sachdienlichen Sprache animierten.
Im Dezember 1963, als Schöne verreist war, arbeitete ich zwei Wochen in der Wiener Albertina, wo deren Kustos, der junge Konrad Oberhuber (1935–2007) die Michelangelo-Sektion für den 21. Internationalen Kunsthistorikerkongress 1964 vorbereitete. Da einer der geladenen Referenten ausfiel, fragte Oberhuber, ob ich in die Lücke springen möchte. Ich mochte und trug am besagten Kongress in Bonn meine „Bemerkungen zur Freundschaft zwischen Michelangelo und Tommaso de‘ Cavalieri“ vor. Der wie alle Vorträge morgens gehaltene Vortrag fand Anklang und ich war gespannt auf die nachmittägliche, von Oberhuber moderierte Diskussion. Diese fand allerdings nicht statt, weil Oberhuber ihr vorgriff mit der Bemerkung, dass eine so herrliche Zeichnung wie die Phaeton-Sturz-Version in Venedig (wo Wagen, Pferde und Phaeton an Jupiter vorbei senkrecht vom Himmel herab auf das fuchtelnde Quartett aus Heliaden und Flußgott zusausen) könne doch nicht „ein Mann wie Cavalieri“ gezeichnet haben.2
Die Diskussion war damit beendet, weil sowohl Herbert von Einem als auch Charles de Tolnay (1899–1981) sich bedeckt hielten. Tolnay, der internationale Michelangelo-Papst, war schon am Morgen, als mein Vortrag aufgerufen wurde, durch ostentatives Verlassen des Saals aufgefallen und dasselbe Zeichen seiner Verachtung setzte er auch nachmittags beim Aufruf der einschlägigen Diskussion.3
Die Redaktorin der Zeitschrift für Kunstgeschichte aber machte mir anderntags die Freude, um einen neuen Aufsatz zu bitten. Dieser wurde denn auch ein Jahr später wieder in der Zeitschrift für Kunstgeschichte (XXVIII, S. 353-360) publiziert, betitelt „Gedanken zu dem Kritischen Katalog der Michelangelo-Zeichnungen: Luitpold Dussler zum 70. Geburtstag“.
Joseph Gantner kündigte an diesem Kongress Herbert von Einem die Freundschaft auf. Er lud seine anwesenden Studenten und die Schweizer Kollegen zu einem Abendessen ein. Herbert von Einem, der sich mit eingeladen fühlte, ließ er draußen stehen.
1967 erhielt ich aufgrund der Habilitationsschrift über Probleme der Handzeichungen – Ein Beitrag zur kunstwissenschaftlichen Grundlagenforschung und aufgrund des von der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg ausgewählten Vortrags über „Die Funktion der Viergeschossigkeit des frühgotischen Kathedralbaus“ die Venia legendi. Ich machte das Manuskript der Habilitationsschrift druckfertig und schickte es zusammen mit dem Fotomaterial dem Gebrüder Mann-Verlag nach Berlin zur Errechnung eines Druckkostenvoranschlags. 1969 übersandte ich das ganze Paket zusammen mit dem Antrag auf Druckkostenbezuschussung an die DFG (diese war bis 1974 darauf verpflichtet, Habilitationsschriften zu fördern).
Nach zwei Jahren des Wartens auf eine Reaktion erlaubte ich mir, das DFG-Sekretariat anzurufen. Der freundliche Sekretär verfiel sogleich, als hätte er auf meinen Anruf gewartet, in Mitleidstimmung. Leider leider müsse er mir sagen, dass die Begutachtungskommission meinen Antrag abgelehnt hatte. Warum sie mir gegenüber nichts verlauten ließ, sagte er nicht.
Zwei oder drei Tage später waren das Manuskript (zerknittert) und die vielen Fotos (verdreckt) wieder bei mir. Des Sekretärs Begleitschreiben enthielt eine Indiskretion, nämlich das Zitat des den Inhalt des Hauptgutachtens zusammenfassenden Schlussworts. Das Zitat besagte, meine Habilitationsschrift sei weder als Monographie noch als Katalog klassifizierbar und außerdem nur für eine homöopathisch kleine Leserschaft genießbar. Es wies den unverwechselbaren Formulierungsstil der Schriften Luitpold Dusslers (1895–1976) auf. Dieser von mir bewunderte Verfasser von Die Zeichnungen des Michelangelo. Kritischer Katalog (1959) – dem einzigen Michelangelo-Zeichnungskatalog, in dem versucht wurde, die gesicherten Zeichnungen des Künstlers von der Masse der zugeschriebenen und apokryphen zu trennen – hatte sich offensichtlich gekränkt gefühlt von meinem gut gemeinten Skript zu seinem 70. Geburtstag. Dieses enthält ja auch ein paar kritische „Gedanken“ (Dussler rechnete zu den gesicherten Michelangelo-Zeichnungen auch solche, die ohne Begründung unisono dem Großen zugeschrieben wurden – wie u.a. die Rectozeichnungen auf den beiden Blättern der Royal Library, deren cinquecenteske Versoinschriften auf die Autorschaft Giulio Clovios verweisen. Beide Blätter sind denn auch in Clovios Nachlassinventar namentlich genannt).
Meine Wut über die präzedenzlose Behandlung meiner Habilitationsschrift war umso größer, als kurz nach dem Empfang der vom DFG-Sekretär zurückgesendeten Papiere ein von Honig triefendes Schreiben des Kommissionsmitglieds Erich Hubala (1920–1994) bei mir eintraf, in dem dieser darum bittet, die Habilitationsschrift seines Lieblingsschülers Rudolf Kuhn über Michelangelos Sixtinadecke zu begutachten. Dieses lächerliche Ansinnen konnte und kann ich mir nur erklären als Versuch, die Mittäterschaft in der DFG-Kommission zu negieren und mich gleichzeitig von der Publikation meiner diskreditierten Habilitationsschrift abzuhalten.
Im Frühjahr 1976 erschien bei Peter Lang GmbH, Frankfurt/M die überarbeitete Druckfassung meiner Habilitationsschrift unter dem Titel „Michelangelo-Studien I: Michelangelo und die Zeichnungswissenschaft – Ein methodologischer Versuch“. Der ersten, ausführlichen Rezension von Wolfgang Kemp (* 1946) in den kritischen berichten (5, 1977, Nr.1, S. 34-42) folgte am 12. Oktober 1977 diejenige in der Süddeutsche Zeitung von Karl Clausberg (* 1938). Diese endet mit einem Satz, der die Rezeption meiner Michelangelo-Aufsätze und der Habilitationsschrift auf den Punkt bringt: „Nach dem Bekanntwerden erster Teilresultate begannen namhafte Sammlungen die Einsicht in Originale zu verweigern, und zum krönenden Abschluß lehnte die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine Unterstützung der Drucklegung ab; sie beförderte statt dessen eine andere Michelangelo-Studie [gemeint: die Habilitationsschrift von Rudolf Kuhn], die sprachlich wie der Zielsetzung nach den üblichen Maßstäben gerecht wurde – Maßstäben, die jetzt auf ihre vom Fach delegierten Gutachterkreise ein ´Zeigelicht´ zurückwerfen.“
Dieser Satz veranlasste den „Prof. Dr. Willibald Sauerländer, Mitglied des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Meiserstraße 10, 8000 München 2“ den folgenden mit „Nicht eigens begutachtet“ betitelten und von der Süddeutschen Zeitung am 4. November 1977 abgedruckten Leserbrief zu schreiben: „Zu Clausbergs Besprechung von Alexander Perrig: Michelangelo Studien (in der SZ vom 12.10.) ist folgende Richtigstellung notwendig:
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat in den vergangenen Jahren nur eine einzige Arbeit über Michelangelo durch Druckkostenzuschuß gefördert: Rudolf Kuhn, Michelangelo. Die Sixtinische Decke, Berlin/New York 1975. Hier handelte es sich um eine Habilitationsschrift, die nach dem bei der DFG bis 1974 gültigen Verfahren nicht eigens begutachtet werden mußte. Für die am 18. 4.1973 erfolgte Gewährung eines Druckkostenzuschusses genügte das Urteil der zuständigen Fakultät der Universität München, welche die Arbeit von Prof. Dr. Rudolf Kuhn 1971 als Habilitationsschrift für gut befunden hatte. Das ´Zeigelicht´, von dem Clausberg spricht, fällt also nicht auf die ´vom Fach delegierten Gutachterkreise´. Sie waren nie mit der von Clausberg ohne Titelnennung als malum exemplum erwähnten Schrift befaßt und konnten daher gar nicht ihre ´üblichen Maßstäbe` an sie anlegen.“
Sauerländer brillierte nicht nur als lügnerischer DFG-Senator. Er amtierte gleichzeitig als pflichtvergessener Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, Meiserstraße 10. Mindestens drei Jahre lang pervertierte er das Zentralinstitut zu einer Zensurbehörde. Ich hätte nichts dergleichen bemerkt, wäre nicht eines schönen Tags ein Anruf aus München gekommen. Die mit mir befreundete Kunsthistorikerin Gabriele Sprigath, die nach ihrer Habilitation von einem hirnlosen Altnazi-Gericht mit Berufsverbot belegt worden war (und am 1. Dezember 2015 für ihre unkonventionelle Kunstvermittlung mit dem Friedlieb Ferdinand Runge-Preis ausgezeichnet wurde), fragte, ob ich nicht vor einigen Jahren einen gewissen Aufsatz publiziert hatte (ich erinnere nicht mehr, welchen sie meinte); sie arbeite zur Zeit im Zentralinstitut, könne den benötigten Aufsatz aber nirgendwo im Institutskatalog finden.
Da zu den Pflichten des Zentralinstituts gehörte, sämtliche deutschen Publikationen über Kunst von Jahr zu Jahr der Redaktion von RILA (Répertoire International de la Littérature de l´Art) zu melden, ging ich nach dem Anruf sogleich in die Bibliothek des Hamburger Kunstgeschichtlichen Instituts, um die im relevanten Zeitraum erschienenen RILA-Bände auf fehlende Einträge zu prüfen. In drei oder vier Bänden fehlten mein Name und die zugehörigen Publikationsangaben. Ich sandte der RILA-Redaktion noch am selben Tag eine Liste der fehlenden Titel mit der Bemerkung, dass sich der Direktor des deutschen Zentralinstitut nebenamtlich auch als oberster Zensor verstehe. Die Titel wurden im nächstfolgenden RILA-Band vollzählig nachgetragen. Sauerländer wird wohl mit einer Abmahnung bedacht worden sein.
Er war übrigens zu dumm, um sich vor der Abfassung seines verlogenen Leserbriefs Rechenschaft darüber zu geben, dass anno 1977 das kriminelle Gebaren der DFG-Kommission in Deutschland längst bekannt geworden war. Zuerst hatte davon natürlich die schwer brüskierte Universität Hamburg erfahren. Ihr verdanke ich die Finanzierung des Drucks meiner Habilschrift, Am 29. September 1976 war das beschämende Verhalten der DFG Gegenstand einer halbstündigen, mit „Die Schwierigkeiten über Michelangelo zu forschen“ betitelten NDR-Sendung von Rainer Burchardt (* 1945), dem Chefredakteur des Deutschlandfunks.
Schon ab Ende 1974 wusste sogar die Sunday Times in London Bescheid. Meine damalige Schülerin und heutige international bekannte Professorin Monika Wagner hatte den mit ihr befreundeten Journalisten John Wardroper (* 1923), der zum Staff dieser damals renommiertesten englischen Wochenzeitschrift gehörte, informiert. Die Sunday Times schickte daraufhin ihren Deutschland- und Frankreich-Korrespondenten Anthony Terry (1913–1992), den Spezialisten für Wirtschaftskriminalität, nach Hamburg zu einem Interview. Terry reiste – wie ich ein paar Jahre später in Paris von ihm erfuhr – allerdings nicht direkt nach Hamburg. Zuvor klapperte er etliche Universitäten ab, um die dortigen Ordinarien für Kunstgeschichte zu fragen, was sie von einem „gewissen Alexander Perrig“ halten. Da er als Kriminalist gewohnt war, die Leute mit Fragen zu löchern, gab er sich mit Antworten wie „ein Spinner“ , „ein Querulant“, „ein Mensch, der sich einbildet, die Michelangelo-Forschung umkrempeln zu müssen“, nicht zufrieden. Er wollte genau wissen, worauf sich solche Urteile stützten. Erst als seine diesbezüglichen Fragen reihum ins Leere liefen, hielt er es für unumgänglich, mich selbst zu interviewen. Nach zwei Stunden Befragung, verabschiedete er sich mit den Worten, ich werde „wahrscheinlich“ eine Einladung, nach London zu kommen, erhalten.
Die Einladung kam im Februar 1975, kurz nachdem im British Museum die große Jubiläumsausstellung der Zeichnungen Michelangelos eröffnet worden war. Drei Tage lang führten Anthony Terry und sein Kollege John Wardroper mich durch die Säle, vor jedem Exponat musste ich ihnen erklären, warum es von mir Michelangelo oder Sebastiano del Piombo, Antonio Mini, Benvenuto Cellini, Tommaso de´Cavalieri, Ascanio Condivi, Daniele da Volterra, Marcello Venusti, Giulio Clovio oder Unbekannt zugeschrieben wird. An jedem Abend setzten wir uns irgendwo zusammen, um das Gesehene nochmals zu besprechen.
Die Sunday Times hatte eigentlich im Sinn gehabt, ein Gespräch mit den Ausstellungskuratoren zu arrangieren. Als diese entrüstet ablehnten, wurden neutrale Michelangelo-Kenner angerufen. Auch sie hielten es für unter ihrer Würde, sich mit dem switzerländischen “crank“ zu unterhalten. In die Lücke sprang schließlich der belesene junge Renaissance-Spezialist Peter Murray (* 1944). Aber da Zeichnungen nicht zu seinen Spezialitäten zählten, unterhielten wir uns hauptsächlich über Gott und die Welt und das Wetter.
Das Verhalten der von Dogmen genährten Michelangelo-Apostel wurde von der Sunday Times am 13. April 1975 bestens bestraft. An diesem Tag erschien unter dem Titel „Michelangelo: How many of the drawings are really his?“ die von Anthony Terry und John Wardroper verfasste, ganzseitige Ausstellungsrezension. Sie habe – schrieb Anthony in seinem Begleitbrief zu dem mir nach Hamburg geschickten Exemplar – wie eine Bombe eingeschlagen. Viele Ausstellungsbesucher hätten in der Folge mit dem Artikel in der Hand vor den Exponaten gestanden.
In das Glücksjahr 1975 fielen nebst diesem Artikel und den ersten positiven Rezensionen meiner Habilschrift auch drei verschiedene Aufträge: 1) der Auftrag, für das Britannica Book of the Year 1976 den Special Report „Quincentenary of Michelangelo Buonarroti“ zu schreiben; 2) der Auftrag, für den 22. Band des Dizionario biografico degli Italiani den Topos “Cavalieri, Tommaso de´” zu verfassen und 3) die Einladung zu einem Vortrag im Rahmen des in Amsterdam am 12. März 1977 stattfindenden interdisziplinären Symposions “Authentication in the Visual Arts”. Dieser mit “Authenticity Problems with Michelangelo: The Drawings on the Louvre-Sheet No. 685” betitelte Vortrag wurde dann zum Anlass, dass der aus New York angereiste Referent William E. Wallace (in meinen Augen der produktivste und gründlichste Michelangelo-Forscher des 20. und 21. Jahrhunderts), der Yale University Press empfahl, eine abgekürzte Version meiner Habilitationsschrift zu drucken – das 1991 erschienene und vom Verlag mit Michelangelo´s Drawings. The Science of Attribution betitelte Buch.
Dieses Buch, das mit der Habilitationsschrift nicht sonderlich viel gemein hat, wurde von U.S.-Zeitungen sogleich freundlich aufgenommen. Monate später aber meldete sich Amerikas Fachwelt mit einem Tsunami hysterischer Verrisse. Die meisten und gröbsten von diesen waren mit Namen signiert, die in der uferlosen Michelangelo-Literatur nie zuvor aufgetaucht waren. Vermutlich stammten sie von Studentinnen und Studenten, die ihren Senf im Auftrag einschlägiger Professoren kreierten. Jedenfalls machten sich die eigentlichen Michelangelo- und Renaissance Kenner durch ein Schweigen bemerkbar, das nur in die Absonderung von Injurien überging, wenn sie wie Frederick Hartt (1914–1991) von Journalisten interviewt wurden. Immerhin gab es neben den Konstrukten aus verbalem Schrott zwei Rezensions-Juwelen, beide kritisch, freundlich und brauchbar. Die erste von William E. Wallace, die zweite von David Rosand (1938–2014), dem Professor an der Columbia University, Inhaber der Meyer Schapiro Professur für Kunstgeschichte.
Zurück zu Anthony Terry. Dass die von ihm Ende 1974 befragten deutschen Ordinarien samt und sonders ein negatives Urteil über meine Person fällten, kam nicht von Ungefähr. Sie alle hatten offenbar zu den Adressaten eines 1972 von Wolfgang Schöne verfassten Rundschreibens gehört, in dem ich, der vormalige Schöne-Assistent, bezichtigt worden war, ihm, dem Ordinarius und Perrigs Förderer, hinterhältig in den Rücken gefallen zu sein.
Anlass dieser düsteren Botschaft war meine Weigerung, im Kunstgeschichtlichen Institut der Hamburger Universität als Privatdozent die Rolle eines Professoren-Domestiken zu spielen. Das 1972 in Kraft getretene neue, demokratische Universitätsgesetz beendete die Ordinarienherrschaft in den Selbstverwaltungsgremien. Die Institutsleiter mussten jetzt periodisch von einem Institutsrat gewählt werden, der sich aus Delegierten des Lehrkörpers und der Studentenschaft rekrutierte. Wolfgang Schöne aber betrachtete sich als der von Gott eingesetzte Institutsdirektor, der weder gewählt noch abgewählt werden kann. Er publizierte denn auch eine Streitschrift (Kampf um die deutsche Universität), die das neue Gesetz in Bausch und Bogen verdammt. Da das Kunstgeschichtliche Institut damals nur noch über zwei Professoren (Schöne und den Extraordinarius Christian Isermeyer) verfügte (der dritte war wenige Jahre zuvor an die Technische Universität Darmstadt berufen worden), wäre von Rechts wegen automatisch Isermeyer der neue Institutsdirektor geworden, hätte dieser sich nicht mit Schöne solidarisiert (da homosexuell veranlagt und in der Nazizeit von Schöne protegiert, hatte er wohl das ständige Gefühl, diesem sein Leben verdanken zu müssen).
In dieser Situation musste der Unipräsident intervenieren und einen Kommissar ernennen. Leider kam nur ich, der Privatdozent, in Betracht. Ein Krach im Institut war damit vorprogrammiert, weil die beiden Professoren davon ausgehen konnten, dass ich als Nicht-Prof. nach ihrer Pfeife zu tanzen habe. Um dies zu verhindern, nahm ich den Kommissar-Job nur unter der Bedingung an, dass mir innerhalb des Gremiums der Status eines Professors zustehe. Von da an betrachtete Schöne mich als seinen Todfeind, den allen Kollegen an deutschen Universitäten als Verräter zu denunzieren, er keine Hemmungen hatte.
Da er nicht mehr mit mir sprach, erfuhr ich auch viel zu spät, dass die Universität meine Habilitationsschrift zu finanzieren gedacht hatte. Sie konnte es erst 1976 tun, als die Schrift auf die billigst mögliche Weise und entsprechend schlecht gedruckt worden war. Schöne hatte es unterlassen, an mich weiterzuleiten, was ihm vermutlich um 1973 vom Unipräsidenten schriftlich mitgeteilt worden war.
Nach seiner Emeritierung (1978) bereute Schöne seinen Hass. Er bildete sich ein, selbst über seinen Nachfolger bestimmen zu können und setzte alle Hebel in Bewegung, um zu verhindern, dass der allerseits beliebte, vielseitig gebildete Martin Warnke (* 1937) es werde. Vergeblich. Das Rennen gewann, wie vorauszusehen, Warnke. Ich hatte ein Jahr lang Zeit, ihn kennen und schätzen zu lernen.
Die letzten Jahre in Hamburg waren nicht nur vergiftet durch das Gebaren der beiden Professoren, sondern auch durch den plötzlichen Einzug eines militanten Feminismus, der in der ganzen Universität ein Klima des Misstrauens generierte. 1980 folgte ich daher frohgemut einem Ruf nach Marburg – die Folge eines dort gehaltenen Symposionvortrags über „Formen der politischen Propaganda der Kommune von Siena in der ersten Trecentohälfte“ (abgedruckt in: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter. Anschauliche Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, 1981). In der Marburger Universität gab es keinen studentischen Feminismus, nur einen Maoismus von gelegentlich nervender Lautstärke. Und es gab eine ganze Menge diskutierfreudiger Kunstgeschichts-, Geschichts-, Archäologie-, Germanistik-, Musik- und Medizin-Dozenten, mit denen man sich anfreunden konnte.
Wenn es um Kultfiguren wie Michelangelo geht, sind Kunstwissenschaftler versucht, sich, ohne es zu merken, eine Theologie mit hauseigener Dogmatik zuzulegen. Verstöße gegen diese Dogmatik werden nach Art der Gegenreformatoren geahndet, indem man die Schriften der Dissidenten entweder als nicht-existent traktiert oder aber mit Argumenten von abenteuerlicher Dummheit lächerlich zu machen versucht. Kommt – wie im Michelangelo-Fall – zum ideologischen Wert angeblicher Kultfigurenprodukte auch der Handels- und Versicherungswert hinzu, sträuben sich die Feuilletonredaktionen reihum dagegen, dem Großkapital auf die Zehen zu treten durch Rezensieren von Publikationen, die auf eine schwer widerlegbare verbale Vernichtung imaginärer Millionenwerte hinauslaufen. Mein 2014 erschienenes Clovio-Buch, das u.a. die Fikton, Michelangelo habe Dutzende von nach lebenden Modellen gezeichnete Vorstudien zu Figuren der Sixtinischen Decke und des Jüngsten Gerichts hinterlassen, widerlegt, wagte bis dato allein die Neue Zürcher Zeitung zu besprechen (am 13. November 2014), obwohl drei Personen im Januar oder Februar 2014 je ein Rezensionsexemplare von Königshausen angefordert hatten. Die Michelangelo-Zunft degradiert somit, ohne es zu merken, ihr Idol zu dem Idioten, der sich ein lebendes Modell nach dem andern in die Werkstatt bestellte, kein einziges aber vollständig, jedes mit fehlenden Gliedern oder als Sammelsurium von Rumpf, Armen, Beinen, Händen, Füßen, Zehen oder Kopf zeichnerisch registrierte.
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Das erste Sommersemester war tatsächlich strapaziös. Fast jede Woche enthielt einen Tag ohne Ende, weil ein von Schöne verängstigter Student oder Studentin Hilfe für eine Seminar- oder Examensarbeit brauchte. Ich hatte daher vorsichtshalber ein Fläschchen „Nimmermüd“ aus Basel mitgebracht, das damals wirksamste schweizerische Anti-Stressmittel (zwei oder drei Tropfen garantierten ein 40-stündiges beschwerdeloses Wachbleiben). Da es eigentlich für die Pferde der mit potenziellen Käufern konfrontierten Pferdehändler bestimmt war, wurde es nach ein paar Jahren verboten.
2
Dass die mythologischen Zeichnungen, die Michelangelo für den jungen Tommaso geschaffen hatte, laut Vasari im Rahmen eines von Tommaso erbetenen zeichnerischen Nachhilfekurses entstanden waren, wurde damals von der gesamten Michelangelo-Forschung ignoriert. Sie wurden und werden auch heute noch schlicht als „Geschenkzeichnungen“ klassifiziert. Dabei geht aus dem erhaltenen Schrift- und Zeichnungsmaterial klipp und klar hervor: 1) dass Michelangelo an dem Tag, an der die erste Begegnung mit Tommaso stattfand, auch eine von dessen Zeichnungen zu Gesicht bekam, und dass er davon beeindruckt war; 2) dass Tommaso, der eine Antikensammlung besaß, im Nachhilfekurs jeweils die Themen der zu erarbeitenden Zeichnungen vorschlug; 3) dass Lehrer und Schüler unabhängig voneinander einen Entwurf zum jeweiligen Zeichnungsgegenstand machten; und 4), dass Michelangelo Tommasos Entwurf jeweils dadurch beehrte, dass er ihn zur Grundlage einer Reinzeichnung machte, aus der Tommaso ersehen konnte, was ihm zwar vorgeschwebt hatte, aber zeichnerisch nur fehlerhaft wiederzugeben gelungen war.
3
Irgendwann – ich weiß nicht mehr, ob vor oder nach dem Kongress – tauchte Tolnay in Hamburgs Kunstgeschichtlichem Institut auf. Schöne hatte keine Zeit, ihn zu betreuen, Er delegierte die Aufgabe an mich. Aber Tolnay mochte nicht von mir betreut werden. Am Tag seiner Abreise beklagte er sich laut Schöne bitterlich über mein Dasein in Hamburg. Er empfand es wohl als eine Entweihung der Stätte seiner einstigen Tätigkeit.